Am 25. Februar wird der Tag des Schachtelsatzes in Deutschland gefeiert. Gefeiert? Darüber bin ich geteilter Meinung, was ich Ihnen weiter unten darlege. In diesem Blogpost lesen Sie außerdem: Wer hat diesen Tag ins Leben gerufen, was ist ein Schachtelsatz, Beispiele für Schachtelsätze, warum heute Schachtelsätze eher out sind und wie Sie Schachtelsätze vermeiden bzw. zerschlagen.
Inhaltsverzeichnis
ToggleMein einschneidendes Schachtelsatz-Erlebnis
Im Jahr 1991 begann mein Hauptstudium der Wirtschaftspädagogik an der Uni Mainz. Als Wirtschaftswissenschaftlerin musste ich mich auch im Fachbereich Pädagogik mit der bildungstheoretischen Didaktik auseinander setzen. Für mehrere Texte haben sich einige Kommilitonen und ich an einem schönen Sommernachmittag in einem Park getroffen – wir wollten die Texte gemeinsam lesen, verstehen und diskutieren.
Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass wir an einem Satz des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Klafki verzweifelten. Gefühlt zog er sich über eine ganze Seite. Wir versuchten Herr dieses Ungetüms von Schachtelsatz zu werden, um die Kernbotschaft zu erkennen – vergeblich. Trotz mehrfacher Versuche hatten wir den roten Faden seiner Argumente bereits verloren, bevor wir überhaupt das Satzendezeichen erblickten.
Unser gemeinsamer Beschluss aus Effizienzgründen: Mut zur Wissenslücke :-).
Definition Schachtelsatz
Im Online-Duden ist zu lesen: Ein Schachtelsatz ist ein langer, kompliziert gebauter Satz mit mehrfach untergeordneten Nebensätzen. Seltener wird er Langsatz oder Bandwurmsatz genannt. Letztlich handelt es sich um die Satzform der “Hypotaxe”; das ist ein Satzgefüge, wo mehrere Teilsätze miteinander verbunden sind, von denen mindestens einer nicht für sich allein stehen kann (Quelle: Duden – Die Grammatik, Band 4, 4. Aufl., 1984, S. 562).
Bei den Juristen fand ich tatsächlich eine bedenkenswerte Begründung zur Nutzung von Schachtelsätzen – nämlich die zivilisierende Wirkung des Schachtelsatzes:
“Wer sich des Schachtelsatzes bedient, ist ein friedlicher Mensch oder hüllt doch wenigstens seine passiv-aggressive Tendenz elegant ein, auf dass sich der Rezipient über die Form ärgere statt über die Aussage” :-D.
Kurz: Der Schachtelsatz ist ein grammatikalisch legitimes, aber schwer verdauliches und berühmt-berüchtigtes Satzgefüge.
Tag des Schachtelsatzes
Heute sollen wir nun den Tag des Schachtelsatzes begehen. Auf die Idee des Schachtelsatz-Tages kam Bastian Melnyk vor ca. einem Jahrzehnt. Wissenswertes zum Schachtelsatz-Initiator lesen Sie drüben bei Sven Giese.
Laut dem Kleinen Kalender ist dieser skurile Tag ideal, um verwirrende oder lustige Schachtelsätze zu bilden. Echt jetzt? Nein, danke!
Warum sollten Sie heute Schachtelsätze vermeiden?
Schon vor mehr als 100 Jahren regte sich der amerikanische Schriftsteller Mark Twain in seinem Aufsatz “Die schreckliche deutsche Sprache” über den Hang deutscher Journalisten zum Schachtelsatz auf. Er schrieb u. a.:
“Man beachte, wie weit das Verb von der Ausgangsbasis des Lesers entfernt ist; nun, in einer deutschen Zeitung setzen sie ihr Verb auf die nächste Seite, und wie ich gehört habe, geraten sie manchmal, wenn sie sich eine oder zwei Spalten lang mit aufregenden Präliminarien und Parenthesen abgegeben haben, in Eile und müssen sie in Druck geben, ohne überhaupt bis zum Verb gekommen zu sein. Der Leser bleibt dann natürlich in sehr erschöpftem und unwissendem Zustand zurück.”
(Quelle: Reclam, S. 15)
Die starke Erschöpfung durch Schachtelsätze wird durch digitale Lesegewohnheiten noch verstärkt. In wissenschaftlichen Untersuchungen zeigten, dass das Lesen am Bildschirm erheblich anstrengender ist. Zudem hat sich unsere Aufmerksamkeitsspanne verringert – ob auf diejenige eines Goldfisches von nur wenigen Sekunden lasse ich dahin gestellt sein.
Wir schreiben kurze Messengernachrichten. Content muss snackable, d. h. mundgerecht aufbereitet, sein. Die Erweiterung von 140 auf 280 Zeichen in Tweets wurde von manchem schon als Untergang des Abendlandes verschrien.
Und wo bleibt in dieser brave new digital world der Schachtelsatz? Er hat schlicht und einfach ein Akzeptanzproblem.
Tipps gegen Schachtelsätze
Möchten Sie, dass Ihre beruflichen Texte (z. B. E-Mails, Präsentationen, Blogartikel) gelesen werden?
Dann gewöhnen Sie sich den Schachtelsatz ab!
Folgende Tipps helfen Ihnen dabei:
- Schreiben Sie hauptsächlich Hauptsätze mit ca. 10-15 Wörtern.
- Bringen Sie nur einen Gedanken, ein Argument in einem Satz unter.
- Jedem dritten Hauptsatz dürfen Sie – nach Wolf Schneider – ohne Verständlichkeitsverlust einen Nebensatz anhängen. Seltener dürfen Sie den Nebensatz voranstellen, kaum bis nie sollte dieser in den Hauptsatz eingeschoben werden.
- Ihre Alarmglocke schrillt, sobald Sie mehr als ein Komma in einem Satz setzen.
- Variieren Sie Ihre Satzlängen; ein Satz sollte jedoch nie länger als eine Atemlänge sein, wenn Sie ihn sich selbst vorlesen.
- Sie dürfen lange Sätze schreiben; aber nicht gleich mehrere hintereinander.
- Zwischen Subjekt und Prädikat, zwischen zusammengesetzten Verben sowie zwischen dem Artikel und dem Substantiv dürfen grammatikalisch korrekt im Deutschen viiiiele Worte eingebaut werden. Doch Sie merken sich: Nie mehr als 6 Wörter oder 12 Silben zwischen etwas setzen, was zusammengehört (Beispiele dazu hier)
- Haben Sie doch einmal einen Schachtelsatz verfasst, zerschlagen Sie ihn: Jedes Komma, jeder Gedankenstrich, jede Klammer zeigt Ihnen eine Stelle an, an der Sie das Hackbeil der Verkürzung ansetzen können.
Mit diesen Tipps haben Sie gute Chancen auf einen unverschachtelten, stolperfreien Satzbau.
Schachtelsatz-Beispiele
Auch wenn unsere Lesegewohnheiten heute von unverschachtelten Sätzen geprägt sind, genieße ich von Zeit zu Zeit diese Meister der Hypotaxe.
Beispiel 1
Kennen Sie René Goscinny, den Schöpfer des Kleinen Nick? Phänomenal legt Goscinny dem kleinen Nick Schachtelsätze in den Mund, die einem auf witzige Art und Weise das Gedankenkarussel des kleinen Helden veranschaulichen – ohne dass wir uns im Labyrinth der Worte verlieren.
“ … Oder die Lehrerin schickt mich nach Hause, das ist ganz schlimm, nämlich dann geht’s los: Mama sagt, ich mach ihr nichts als Kummer, und Papa sagt, als er so alt war wie ich, da war er ein Vorbild für seine kleinen Mitschüler und dafür schuftet er sich die Seele aus dem Leib, um mir eine gute Erziehung zu geben, und es nimmt noch ein schlimmes Ende mit mir, und jede Woche einmal ins Kino – damit ist erst mal Schluss.“
(Quelle: Schauen Sie sich beim Diogenes-Verlag die Leseproben zum kleinen Nick an)
Beispiel 2
Neben Heinrich Kleist zählt auch Thomas Mann zu den Künstlern des Schachtelsatzes. Hier ein Auszug aus seinem Roman Buddenbrooks:
“Der Konsul, zu Hause, wenn er solche Äußerungen las, konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, denn trotz alles Schmerzes, der in den Zeilen steckte, verspürte er einen Unterton von beinahe drolligem Stolz, und er wußte, dass Tony Buddenbrook als Madame Grünlich sowohl wie als Madame Permaneder immer ein Kind blieb, daß sie alle ihre sehr erwachsenen Erlebnisse fast ungläubig, dann aber mit kindlichem Ernst, kindlicher Wichtigkeit und – vor Allem – kindlicher Widerstandsfähigkeit erlebte.”
(Quelle: Thomas Mann, Buddenbrooks, Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 52. Aufl., Jan 2002, S. 369)
Beispiel 3
Tobias Sedlmaier hat in der NNZ letztes Jahr einen aktuellen, kunstvollen Schachtelsatzartikel verfasst mit der Überschrift Für diesen Text brauchen Sie einen langen Atem. Wann haben Sie es zuletzt geschafft, 313 Wörter in einen Satz zu packen?
Mein Fazit und eine Schachtelsatz-Anleitung
Sie haben es vielleicht nicht gemerkt? Ich bin eine Freundin des Schachtelsatzes – aber nur, wenn ich ihn in guter Literatur antreffe. Und nur dann kann ein Bad in formvollendeten Satzgefügen erfrischend sein.
Im beruflichen Kontext, in wissenschaftlichen Abhandlungen, in privatem Schriftverkehr, in journalistischen Texten ist der Schachtelsatz für mich eine Zumutung.
Sie haben in Anbetracht der juristisch-zivilisierenden Wirkung und der schöngeistigen Beispiele Lust auf das Verfassen von eigenen Schachtelsätzen bekommen? So geht’s: Nehmen Sie einen Hauptsatz und verkeilen Sie möglichst viele Nebensätze und Partizipialkonstruktionen darin. Auch hilft Ihnen diese Anleitung zum Verfassen eines Schachtelsatzes.
Viel Erfolg – ich überlasse Sie nun Ihrem Hypotaxen-Experiment.
Herzlichen Gruß, Ihre Manuela Seubert
PS: Wenn Sie sich individuelle Tipps für Ihren Schreibstil wünschen, stehe ich Ihnen gern für ein Schreibcoaching zur Verfügung. Rufen Sie mich an: 06431/262232
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Fotos: © Manuela Seubert
Liebe Manuela,
mit großer Freude lese ich immer wieder Deinen Newsletter und Deinen Blog. Vielen lieben Dank für den wertvollen Input, den Du uns regelmäßig zur Verfügung stellst. Auch dieser Blogpost ist wieder fantastisch! Du bringst es auf den Punkt! Aber in einem bin ich nicht ganz Deiner Meinung. In wissenschaftlichen Texten ist es gerade bei komplexen Zusammenhängen durchaus wichtig, der Punktgenauigkeit der Satzlänge den Vorrang zu geben. Optimal wäre es natürlich, wenn sich beides verknüpfen ließe. In allen anderen Darstellungsformen stimme ich Dir vollends zu.
Mit herzlichen Grüßen aus Frankfurt
Dein Daniel