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Texten – das aussterbende Handwerk?

“Schreiben kann doch jeder …”, so lautet die Editorial-Überschrift von Daniel Neuen im letzten PR Report 4/2016. Nicht nur er konnte bei einer Jurytätigkeit die erschreckend geringe Textkompetenz der PR-Branche erleben. Auch in seinen Gesprächen mit Agenturchefs bekam er bestätigt, dass es um die Schreibqualifikation der Kommunikationsmitarbeiter nicht gut bestellt ist.

Diese Worte haben mich ins Grübeln gebracht und eine Menge Fragen aufgeworfen.

Mögliche Gründe für Schreibdefizite bei Kommunikatoren

Es mag Sie verwundern, dass Fachleute in der Kommunikationsbranche schlecht oder ungern schreiben. “Irgendwie” erwarten wir von Kommunikatoren, dass sie gute Texte verfassen können.

Jedoch:

  • Nicht jeder Kommunikator hat an den Beginn seiner beruflichen Laufbahn eine journalistische Ausbildung gestellt.
  • Die Kreativität dieser Branche lebt auch von Quereinsteigern.
  • Kommunikatoren decken eine Vielzahl von Tätigkeiten ab: Analyse (der aktuellen Kommunikation im Unternehmen; des Marktes; der Wettbewerber; der bisherigen Content Strategie), Strategieentwicklung, kreative Konzeptionen, Bild-/Videoerstellung, Redaktionsleitung, u. v. m.

Das sind nur drei Gründe, warum Sie nicht davon ausgehen können, dass jeder in der Kommunikationsbranche einen guten Schreibstil hat.

Unabhängig davon, ob man Quereinsteiger ist oder in seiner Verantwortung kaum Texte zu schreiben hat: Ein Mitarbeiter in dieser Branche sollte m. E. n. seine Textqualifikationen schulen und täglich üben. Nur der ständige Umgang mit Wörtern und Sätzen bringt ungeübte Schreiber einem strukturierten Schreibprozess und einer flüssigen “Schreibe” näher.

Wie sieht es nun in anderen Branchen und Berufsfeldern aus?

Ursachen der Schreibdefizite – nicht nur bei Kommunikatoren

Bei allem Gerede und Trend zu mehr Bild und Video in der “Kommunikation” – Grundlage vieler Tätigkeiten im beruflichen Alltag ist und bleibt das geschriebene Wort:
Kurze Messengertexte, Social-Media-Post, Websitetexte, Worte in Anzeigen oder Flyern, E-Mails, Reden, Vorträge, Präsentationen, Management Summaries, Teilnahme an Ausschreibungen und Wettbewerben, Gutachten u. v. m.

Viele Berufstätige müssen tagtäglich schreiben – nicht nur die Kommunikationsmitarbeiter. Daher sollte das geschriebene Wort eine gewisse Struktur und Verständlichkeit aufweisen.

Grundsätzlich sehe ich drei Gründe, warum es in vielen Berufsfeldern am guten schriftlichen Ausdruck mangelt:

1. Ursache: Die schulische Ausbildung

Vorwiegend in der Grundschule tasten wir uns von einzelnen Buchstaben an Wörter und Sätze heran. Grammatik, Rechtschreibung oder Erörterungen lernen wir in den weiterführenden Schulen. Wir beschäftigen uns intensiv mit unserer Muttersprache in den Grundstrukturen und den weitverzweigten Details.

Zugegeben: Meine Schulzeit und damit der Deutschunterricht liegen sehr lange zurück. Was mir im Nachhinein dort fehlte, war die Vorbereitung auf die Verwendung von verständlicher, zielführender oder meinetwegen auch effizienter Sprache. Wir lernen in aller Ausführlichkeit die Irrungen und Wirrungen der deutschen Sprache kennen. Übernehmen wir als Schüler unterbewusst diese Kompliziertheit in unsere Texte? Vielleicht weil wir glauben, sie gehöre zu einem beeindruckenden Ausdruck dazu?

Wird das heute an Schulen anders gelehrt? Die im Editorial angesprochenen Defizite sprechen gegen meine Hoffnung, dass der Lehrplan heute “gebrauchsfähiges Alltagsdeutsch” vorsieht.

2. Ursache: Die Hochschulausbildung

Haben wir in der Schule unser Deutsch bis in den fünftuntergeordneten Nebensatz eines Kausalsatzes grammatikalisch einwandfrei gepflegt und dabei gleichzeitig das führende Nomen durch Synonyme bis zur Unverständlichkeit ersetzt …
… kommt das Schreiben für den Professor in der akademischen Ausbildung hinzu.

Für ihn wollen wir vielleicht klüger erscheinen, indem wir unsere Gedanken, Thesen, Argumente in den Semesterarbeiten und Fachartikeln wissenschaftlich verklausulieren. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Lektüre von kompliziert strukturierten und unverständlich formulierten Pflichttexten von “Vorbild”-Wissenschaftlern.
Mit Grauen denke ich an meine Erfahrungen mit bildungstheoretischen Fachaufsätzen.

3. Ursache: “Must have”-Sprache im Beruf

Angelangt in unserer beruflichen Laufbahn bringen wir so manchen Sprachschatz und manch unbewusst angeeignete Sprachungetüme mit. Letztere krönen wir mit Anglizismen, wolkigen Formulierungen, Fachausdrücken und Worten, die gerade “gehyped” werden – als ob sich Ansehen und Fachkompetenz aus unverständlichen Worten und Sätzen ableiten ließe.
Gerade die Unternehmensbereiche, in denen ich bisher hauptsächlich gearbeitet habe, sind von diesem Anglizismus- und Buzzword-Virus befallen: Strategieberatung, Marketing und Public Relations.

Ich bin der Überzeugung, dass wir unsere Muttersprache in Schriftform mit ihren Feinheiten und Ausnahmen beherrschen sollten. Spätestens in den Abschlussklassen der weiterführenden Schulen sollten wir jedoch lernen, wie wir klare Sätze verfassen, zielführende Wörter für unsere Texte aussuchen und unsere eigenen Texte auf Verständlichkeit überprüfen – zum Nutzen des Lesers.
Wissenschaftliches Arbeiten und erste berufliche Erfahrungen sollten uns nicht davon abhalten, einen leserfreundlichen Schreibstil zu entwickeln und zu pflegen – unabhängig von Branche und Berufstätigkeit.

Was macht eigentlich eine “gute Schreibe” aus?

Nahaufnahme einer Tastatur (Schrägansicht); Foto: (c) Manuela SeubertDas Editorial im PR Report beschäftigt mich – vielleicht, weil ich selbst Quereinsteiger in dieser Branche bin und Kunden im “Handwerk Schreiben” trainiere. Welche Fähigkeiten gehören zum “Handwerk Schreiben” für den Berufsalltag? Welche sollten speziell Kommunikatoren vorweisen?

  1. Hängt eine gute Schreibe von einem strukturierten und effizienten Schreibprozess ab?
  2. Gehört zum Handwerk Texten ein gewisses Maß an Empathie, um für eine heterogene Zielgruppe oder verschiedene Personas schreiben zu können?
  3. Ist für eine gute Schreibe konzeptionelles Verständnis von Nöten?
  4. Gehört Storytelling oder journalistische Formen wie Kommentar oder Bericht zum “Handwerk Schreiben”? Oder sind solche Feinheiten eher “Kür” bei Kommunikationsberufen als “Pflicht” für alle schreibenden Berufstätigen?
  5. Ist vielleicht die Basis von verständlichen Texten zu finden in den Tipps zu guter Wortwahl und unkomplizierten Sätzen, die Wolf Schneider seit Jahrzehnten lehrt?

Ein Schluss mit weiteren Fragen zum “Handwerk Schreiben”

Normalerweise finden Sie in meinem Blog Beiträge, denen Sie Tipps für Ihre Kommunikation entnehmen können. Heute werfe ich wohl mehr Fragen auf.

  • Eignen sich Kommunikatoren nicht mehr Textkompetenzen an, weil das Texten am Ende der Wertschöpfungskette steht, wenig Wertschätzung erfährt und daher die eigene Reputation nicht vermehrt?
  • Warum fällt ein verständlicher, beruflicher Text so schwer?
  • Manche Schreiber wissen, dass sie z. B. einen verständlicheren Satzbau brauchen – aber sie wissen vielleicht nicht, wo sie zur Verbesserung ansetzen sollen. Fehlt ihnen eine Analyse ihrer Texte, um schnell größere Verbesserungen hin zu verständlichen Texten zu erzielen?
  • Welche Tipps benötigen Sie konkret?
  • Finden Sie Blogartikel in der Form von “Die ultimativ 120 besten Ideen für eine unvergleichliche Überschrift” wirklich hilfreich oder schreckt Sie das eher ab?
  • Welche Berufsfelder in Unternehmen benötigen neben der Unternehmenskommunikation eine handwerklich gute Schriftsprache oder die Fähigkeit die schriftliche Ausdrucksfähigkeit anderer zu beurteilen?

Was denken Sie über “Schreiben kann doch jeder”?

Mit nachdenklichen Grüßen
Ihre Manuela Seubert 

PS. Wenn Sie sich individuelle Tipps für Ihren Schreibstil wünschen, stehe ich Ihnen gern für ein Schreibtraining zur Verfügung. Rufen Sie mich an: 06431/262232.

Fotos: © Manuela Seubert

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